- Maimonides und die arabische Kultur der Juden
- Maimonides und die arabische Kultur der JudenDer Ursprung und die Anfänge des Philosophierens und der Übersetzungstätigkeit, das heißt die ersten Schritte einer echten Religionsphilosophie im Judentum, sind ein paar Jahrhunderte nach Abschluss des Talmuds spürbar, und zwar im arabischen Kulturraum und Sprachgebiet. In dieser Zeit des geistigen Umschwungs vollzog sich der Übergang von der talmudischen Dialektik zur Metaphysik des Aristoteles. Da die Juden sich im arabisch-morgenländischen Kulturraum befanden, blieben sie von den dortigen Kontroversen und religiös-politischen Problemen nicht unbetroffen. Auch sie stellten sich Fragen über das Wesen ihrer Religion, die Wahrhaftigkeit der Offenbarung, die Möglichkeit einer Versöhnung von Glauben und Denken oder der Offenbarung und der Vernunft. Auch sie wurden verwirrt oder unschlüssig angesichts so großer Fragen, wie Maimonides selbst es ein paar Jahrhunderte später feststellen sollte. Das Element, das damals als Gärstoff wirkte, war das geistige Vermächtnis der Griechen, das von arabisch sprechenden Mönchen in die Muttersprache der neuen Machthaber übertragen wurde, sodass den Theologen und Religionsphilosophen des Islam eine vollständige Bücherei zur Verfügung stand. Die Juden wussten sich dieses geistige Erbe anzueignen und es ihrem spezifischen Milieu anzupassen. Sie hielten sich gar nicht fern von dieser Wissbegier, sodass zu Beginn des 10. Jahrhunderts Saadja Gaon, der erste bedeutende Denker des rabbinischen Judentums im Mittelalter, als gleichberechtigter Vertreter des jüdischen Kalams gelten darf. Der Kalam - der arabische Ausdruck bedeutet »das vernünftig artikulierte Wort« - bezeichnete die damalige rationale Theologie des Islam und seine Anhänger hießen die Mutakallimoun. Die Kultursprache der Juden war das Arabische, so wie den Gelehrten im christlichen Abendland das Lateinische als Verständigungsmittel diente. Deswegen kommt den Übersetzungen in diesem kulturgeschichtlich-inhomogenen Rahmen eine auschlaggebende Rolle zu; und Saadja war der erste, der die Bibel ins Arabische übersetzte. Die Juden ließen sich nicht allein von diesen neu zugänglichen Werken passiv belehren, sondern beteiligten sich durch Kommentare und Erweiterungen derselben. Und später, als sich der Schwerpunkt der jüdischen Religionsphilosophie im Mittelalter nach Europa und ins Abendland verlegte, übersetzten die jüdischen Philosophen die arabischen Aristoteliker ins Hebräische und sogar ins Lateinische, als die christliche Gelehrtenwelt wegen der Sprachbarriere diese Quellen nicht erschließen konnte. Es kann anhand einiger Beispiele nachvollzogen werden, dass die hebräische Sprache als Medium und die Juden als Übersetzer eine wichtige Vermittlerrolle innerhalb der europäischen Geistesgeschichte spielten.Nach Saadja Gaon, der die Arbeitsbasis des spekulativen Denkens schuf, und der beachtenswerten Tätigkeit seiner Nachfolger wandte sich das jüdische Denken nicht sofort dem Werk des Aristoteles zu. Zunächst behauptete der Neuplatonismus seine Herrschaft bei den Juden. Der Kalam wurde in den Hintergrund gedrängt. Aufmerksamkeit verdient ein einzigartiger jüdischer Religionsphilosoph, der ein ganz merkwürdiges Schicksal erfuhr: Er hieß Salomon ben Jehuda Ibn Gabirol, der berühmte Avicebron der christlichen Scholastik, die ihn für einen Araber hielt und dessen jüdische Identität erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem ehemaligen deutschen Juden, Salomon Munk, dem Begründer der französischen Judaistik, erschlossen wurde. Der synagogale Dichter Salomon Ibn Gabirol war zugleich ein kühner Metaphysiker, der ein Buch mit dem Titel »Fons Vitae«, »Quell des Lebens«, verfasst hatte, in dem er sich jeder Anspielung auf die Bibel oder auf die Theologie der Juden enthielt. Jahrhundertelang wusste fast niemand, dass der Metaphysiker - er lebte ungefähr zwischen 1020 und 1050 -, der die Existenz einer geistigen Materie behauptet hatte, ein Jude war. Wenngleich die arabische Vorlage längst als verschollen gilt, verfügen wir über eine ausgezeichnete, von Clemens Baeumker besorgte lateinische Ausgabe dieses Textes sowie bei Salomon Munk über hebräische Exzerpte. Man sieht also in dieser Hinsicht, dass die Judaistik sich eines Textes annehmen muss, der nicht unbedingt jüdisch gefärbt ist und der trotzdem zum Hauptwerk des Neuplatonismus im Mittelalter wurde. Dieses Beispiel von Ibn Gabirol ist höchst aufschlussreich und sehr belehrend; es gewährt uns einen Einblick in die ungeahnten Schätze, die eine ernsthafte Erforschung des geistigen Erbes des Judentums anzubieten weiß. Diese arabisch-jüdische Glanzperiode ist noch nicht zur Genüge erforscht worden, da viele Werke nur handschriftlich erhalten sind und Judaisten diese noch aus dem Arabischen übertragen müssen.Der größte arabisch-jüdische Autor war Moses Maimonides. Er erschloss dem Judentum die aristotelische Philosophie und eröffnete eine neue Ära der jüdischen Religionsphilosophie des Mittelalters. Maimonides wirkte bahnbrechend in fast allen Bereichen des Judentums. Auf dem Gebiet der Bibelexegese gab er der allegorischen Auslegungsmethode und dem philosophischen Kommentar der Schrift den Vorrang. In einer meisterhaften Einleitung zu seinem »Führer der Unschlüssigen« nahm er zwischen Philosophie und Gesetz beziehungsweise Vernunft und Offenbarung einen echten Annäherungsversuch vor, der vor ihm kaum seinesgleichen hatte. Statt eines Nebeneinanders von religiösen und philosophischen Komponenten stiftete er ein wirkliches Ineinander der Vernunft- und der Offenbarungswahrheit, das die Verfahrensweise des Saadja und seiner Nachfolger ganz in den Hintergrund drängte. Durch seine Behandlung der Homonyma, biblischer Worte schwer zu entschlüsselnden Inhaltes, las er seine philosophischen Hauptlehren in die Heilige Schrift hinein, wie zum Beispiel die Lehre von der Einzigkeit und Unkörperlichkeit Gottes. Der griechische Begriff von Gott wird nun mit den biblischen Erzählungen vom geschichtlich handelnden Gott vereinbart. Seine Diskussion der Theorien über die Ewigkeit oder das Entstandensein der Welt, den kollektiven oder persönlichen Charakter der göttlichen Vorsehung, das Wesen der Prophetie und die Möglichkeit oder die Unmöglichkeit der Wunder wurden jahrhundertelang von seinen Nachfolgern kommentiert. Zwar liegt eine deutsche Übersetzung des »Führers der Unschlüssigen« von Adolf Weiss vor, aber die philosophischen Erben des Maimonides, diejenigen, die ihn im Sinne der Philosophie der Zeit, und das heißt von der Philosophie des Ibn Ruschd(Averroes), erklärt und begriffen haben, sind bislang noch nicht ausreichend erforscht.Man spricht gewöhnlich von jüdisch-arabischen oder jüdisch-hebräischen Kommentaren zum Werk des Maimonides und vergisst ein einziges Beispiel zu erwähnen, dass ein Moslem einen Auszug aus dem »Führer der Unschlüssigen« arabisch kommentierte. Es handelt sich um Muhammad al-Tabrisi, einen persischen Religionsphilosophen aus dem 13. Jahrhundert, der die 25 Sätze des Maimonides im zweiten Teil des »Führers der Unschlüssigen« arabisch kommentierte. Maimonides hatte sein Werk ursprünglich in Arabisch - mit hebräischen Letterboden - verfasst: Der Titel des Werkes lautete »Dalalat al-Hajjirin«, auf Hebräisch: »More Newuchim«. Dies ist einmalig in der Geschichte der jüdisch-arabischen Kulturbeziehungen im Mittelalter: Bisher war es üblich gewesen, dass die Araber die philosophierenden Juden beeinflusst hatten; in dem vorliegenden Fall aber befand ein arabisch schreibender Denker es für gut und ratsam, den Text eines Juden zu kommentieren. Es handelt sich vielleicht um das glänzendste Beispiel der damaligen jüdisch-arabischen Symbiose. Dieser arabische Text des al-Tabrisi wurde zweimal ins Hebräische übersetzt, zuletzt 1996, was von seinem hohen Wert Zeugnis ablegt. Von al-Tabrisi wissen wir wenig; falls er andere Aufsätze, Traktate oder Abhandlungen verfasst hat, so sind sie wohl verschollen und nicht überliefert. Es ist aber anzunehmen, dass al-Tabrisi nicht das ganze Werk des Maimonides kommentierte, vielmehr dass er zwar von dem Werk in seiner Ganzheit Kenntnis genommen hatte, um sodann die 25 Sätze des zweiten Teils als Grundstein seines Systems zu identifizieren: Ohne diese Sätze, die ihm zugleich das aristotelische Vermächtnis der Scholastik beinhalten, hätte Maimonides sein Vorhaben, das Dasein, die Einheit, die Unkörperlichkeit und die Einzigkeit Gottes zu beweisen, nie verwirklichen können.Die Wahlverwandtschaft der beiden Kultursysteme musste doch vor einer gewissen Grenze enden: Die jüdische Komponente nimmt im Werk des Maimonides doch die Schlüsselstellung ein. Der »Führer der Unschlüssigen« wurde ja konzipiert, um die Versöhnung des Judentums mit der Philosophie im Allgemeinen unter Beweis zu stellen. Dies erstrebte der »Adler der Synagoge«: Nicht alle Offenbarungsreligionen wollte der jüdische Denker aus Córdoba mit der Philosophie auf einen gemeinsamen Nenner bringen, sondern nur seine angestammte Religion. In diesem Zusammenhang wird ganz klar, dass al-Tabrisi nur dem eigentlich philosophisch-universellen Teil des maimonischen Philosophierens zum Ansehen verhelfen wollte. Dagegen ist schwer vorstellbar, dass ein Moslem die ersten fünfzig Kapitel des ersten Teils des »Führers der Unschlüssigen« kommentiert, wo Maimonides den tieferen Sinn der biblischen Homonyma aufdeckt; das hätte er vielleicht für seine eigene Religion tun können, wenn er es gewagt oder für angebracht gehalten hätte.Al-Tabrisi muss dementsprechend die Schlüsselstellung der 25 Sätze (26, wenn der Anhang des Maimonides dazugezählt wird) erkannt haben: Sie stellten den Inbegriff der Lehren des mittelalterlichen Aristotelismus dar, so wie er mehr oder weniger wortgetreu in der Physik und der Metaphysik des Aristoteles zu finden ist. Bemerkenswert ist, dass die Kürze und Bündigkeit des Altmeisters hier doppelt so ausgeprägt wie im Rest des Werkes ist; denn der Autor hatte ja seine Absicht beteuert, »die Bücher der Philosophen hier nicht abzuschreiben«.Im 13. und 14. Jahrhundert zogen diese Sätze die Aufmerksamkeit verschiedener jüdischer Denker auf sich, die sie eigens kommentierten: Hillel ben Samuel aus Verona, Zerahaja Hen und Jedaja ha-Bedersi, letzterer stammt aus der südfranzösischen Stadt Béziers. In neuerer Zeit wurde erst wieder die Bedeutung der Propositionen von Salomon Munk erkannt, der sie in einer maßgebenden Übersetzung des »Führers der Unschlüssigen« herausgearbeitet und mit gelehrten Anmerkungen versehen hat.Die enge Verbindung der beiden Kulturen und Religionen, Judentum und Islam, tritt vom 13. bis zum 16. Jahrhundert zum Vorschein: In diesem Zeitraum kommt es zum Aufblühen des jüdischen Averroismus, der die ganze maimonische Philosophie im Sinn des berühmten Ibn Ruschd, des Averroes, auslegen wollte. Ibn Ruschd verstarb im Jahr 1198, also ungefähr sechs Jahre vor Maimonides, der ebenfalls in der Stadt Córdoba geboren wurde, der ihm aber nie begegnet ist und seine Kommentare nicht verwenden konnte. Denn Maimonides' philosophisches Werk war schon beschlossen, als er in Ägypten von den averroistischen Schriften Kenntnis nahm. Ungeachtet dessen wollten die auf Maimonides folgenden Denker in ihm einen getarnten Anhänger des Ibn Ruschd erblicken. Dadurch erklärt es sich, dass man fast das Ende des 15. Jahrhunderts abwarten musste, um in Abrabanel, Leo Hebraeus, den Hauptvertreter eines traditionellen Maimonidismus zu finden. Bis zur Vertreibung der Juden aus Spanien bestand die ganze Kette der Kommentatoren des »Führers der Unschlüssigen« aus entschiedenen Averroisten, sodass das Auftreten des Abrabanel wie ein »Blitz aus heiterem Himmel« wirkte.Prof. Dr. Maurice-Ruben Hayoun
Universal-Lexikon. 2012.